Aurelia im Gesundheitszentrum in Ruanda

„Ich habe eine Familie am anderen Ende der Welt geschenkt bekommen“

1974 hat das St. Bonifatius Institut in der Hügelregion Gikonko im Süden des Landes ein Gesundheitszentrum übernommen und erweitert. Nach dem Genozid 1994, vieles war zerstört, alles gestohlen und die Leute geflohen, machte man sich daran das Ganze wiederaufzubauen. Im Gesundheits- und Ernährungszentrum sorgen sich eine deutsche «Doctor Sister» und ihre Mitarbeiter um die medizinische Versorgung der 5’000 Patienten, die pro Monat Hilfe suchen. In den 54 Betten, die oftmals doppelt belegt sind, werden neben chirurgischen auch gynäkologische und pädiatrische Patienten betreut. Zusätzlich gibt es Dienste zur Schwangerenvorsorge und zur Betreuung von Tuberkulose- und HIV- Patienten. Im angeschlossenen Ernährungszentrum werden täglich Kinder gewogen, gemessen und geimpft, Ernährungsprogramme für unterernährte Kinder und Kampagnen zur Gesundheitsaufklärung durchgeführt.

Die ersten Wochen verbrachte ich im Ernährungszentrum. Ich habe Babys gewogen und gemessen, in tonnenweise Bücher eingetragen, bin beim Impfen zur Hand gegangen und habe beim Austeilen von Vitaminen und Wurmmitteln geholfen. Man stelle sich vor, an einem Morgen habe ich mehr als 200 Kinderarmumfänge gemessen! Im Ernährungszentrum gab es immer Schubweise viele Kinder zu messen und dann immer wieder Phasen, wo es nicht so viel für mich zu tun gab. Diese Zeit habe ich dann mit Voci lernen verbracht, Kinyarwanda und Französisch.

Danach durfte ich im Gesundheitszentrum mithelfen. Ich durfte bei den Patienten von zwei Sälen Fieber und Blutdruck messen, mit in den OPS und war u.a. bei Kaiserschnitten und einer Beinamputation dabei. Bei der pränatalen Sprechstunde lernte ich, wie man Fötenköpfe ertastet, Herzgeräusche hört und die Uterusgrösse misst. Ich durfte kleine Neugeborene anziehen und sogar bei Geburten assistieren! Gegen Ende verbrachte ich viel Zeit auf der Verbandsabteilung und habe Verbände gewechselt und Wunden desinfiziert, dabei gab es immer wieder viel Spannendes zu sehen und zu lernen. Ausserdem war ich bei Konsultationen dabei, durfte Blut nehmen, im Labor Proben anschauen, bei Augentests helfen und vieles mehr. Am Nachmittag habe ich mich jeweils der Patienten im Hospital etwas angenommen. Darunter ein Junge, der mit Osteomyelitis nach einem Jahr Rollstuhl endlich wieder anfangen konnte, mit Krücken zu gehen. Mit den Kindern, die stationär bei uns waren, habe ich begonnen ein wenig Englisch zu lernen; mit viel Zeigen und Berühren, Bildern und Aufsagen. Ich bin mir nicht sicher, wie viel davon hängen blieb, auf jeden Fall hatten sie grosse Freude daran.

Mein besonderes Erlebnis mit Mama Thea

Es gibt einige Lebensgeschichten, die mir stark im Gedächtnis geblieben sind. Darunter auch die Geschichte von Mama Thea: Während des Genozids wurden ihr Mann und ihre vier Kinder getötet. Nach diesem Schicksalsschlag stand sie wieder auf und heiratete ein zweites Mal, allerdings hatte dieser Mann AIDS, ohne es zu wissen. Nach zwei Jahren Ehe starb dieser Mann an der Krankheit, sowie auch ihr sechs Monate altes Baby. Noch nicht genug, hatte auch sie sich mit AIDS angesteckt. Nun nimmt sie täglich starke Medikamente ein, um das Virus unter Kontrolle zu halten. Nach all diesen Prüfungen begann sie bei den St. Bonifatius Schwestern die Waisenkinder des Genozids zu unterrichten, die nach dem Krieg hier grossgezogen wurden.

Der Kulturschock

Die ersten beiden Wochen verbrachte ich bei einer 82-jährigen Schweizer Krankenschwester, die nun schon ihr Leben lang in diesem Land ist. Diese zwei Wochen waren zuerst einmal geprägt von Kulturschock. Duschen hiess, sich tassenweise kaltes Wasser über den Kopf zu leeren. Aus dem Haus gehen hiess, sich von allen anstarren zu lassen. In die Kirche gehen hiess, nichts zu verstehen. Und in dieser Fremdheit waren meine einzigen Ansprechpersonen eine Frau aus einem anderen Jahrhundert, die meine Unsicherheiten kaum mehr nachvollziehen konnte, war sie doch schon längst Ruanderin und ein ruandisches Mädchen in meinem Alter, das nur Kinyarwanda verstand. Schlussendlich war es dieses Mädchen Mediatrice, das mich durch diese zwei Wochen, in denen mir eine wirkliche Aufgabe fehlte, trug. Ich half ihr im Garten, ging mit ihr in die Chorprobe, zum Markt und zur Schneiderin und lernte mit ihr Kinyarwanda. Sie ist für mich ein bisschen wie eine grosse Schwester geworden in dieser Zeit und als ich ihr von meinem Heimweh erzählte, erzählte sie mir von ihrem, wo sie doch sonst ein Mensch war, der scheinbar nie zu lachen aufhörte!

Das Leben im Kloster

Die Schwestern waren ausgesprochen fleissig und aufopfernd für alle Menschen, die ihre Hilfe benötigten. Und doch fanden sie noch Zeit mit mir einmal einen Wallfahrtsort zu besuchen, mit Picknicken, Singen im Auto und allem Drum und Dran, war das wunderschön. Es ist mir aufgefallen, dass die Arbeitsmentalität der Schwestern stark vom deutschen Mutterhaus beeinflusst ist. Sie sagen selbst, sie seien deutsche Kinder. Auch die benediktinische Mentalität spürte ich stark. „Ora et Labora“ – „Beten und arbeiten“.

„Gahoro, Gahoro“

Es gibt viele Dinge, die mich nachhaltig beeindruckt haben in Afrika. Positiv, so dass ich versuchen möchte diese Dinge auch in der Schweiz beizubehalten. Zum einen beeindruckte mich die Gastfreundschaft bei den Schwestern, deren grosse Akzeptanz und Toleranz für jeden Menschen, die Freude der Ruander trotz widriger Umstände und ihre Engelsgeduld. Aber da war auch viel Trägheit, eine gewisse Lethargie, wenn Probleme auftauchten.

Ich hoffe, dass ich ein wenig von der afrikanischen Gelassenheit konservieren kann und mich nicht gleich wieder in der schweizerischen Schnelllebigkeit verliere. „Gahoro, Gahoro“ – „Stück für Stück“. Auch wenn ich mit meinem Medizinstudium weitermache, wird meine Ruandazeit immer in meinem Herzen sein und mich hoffentlich immer mal wieder erden. Die Schwestern sind mir ans Herz gewachsen und oft denke ich an die gemeinsame Zeit zurück und vermisse sie.